Mitalternde IT-Architekturen: Ambient Assisted Living

Mitalternde IT-Architekturen: Ambient Assisted Living

Es kann nicht ein einzelnes System geben, das alle Nutzer mit ihren Wünschen und Bedürfnissen an Assistenz im Wohnumfeld gleichermaßen zufrieden stellt: Junge Menschen haben andere Ansprüche als alte, Alleinlebende benötigen nicht die gleiche Unterstützung wie Familien. Es kann aber eine IT-Infrastruktur geben, die personalisierte Dienste auf einer einheitlichen technischen Infrastruktur ermöglicht. Dies ist der einzige Weg, der ‚Ambient Assisted Living (AAL)‘, also die Einbettung technischer, IT-basierter Assistenzsysteme in das Wohnumfeld, für Anbieter wirtschaftlich und für die Nutzer akzeptabel macht. Ein Plädoyer für die ‚mitalternde IT‘:
Über den demographischen Wandel ist alles gesagt. Die Herausforderungen und Bedarfe zukünftiger Generationen liegen auf der Hand. Eigentlich eine gute Grundlage, um neue Lösungen für diese aufkommenden Herausforderungen genau zu planen und zu entwickeln. Obwohl die Ausgangslage gut scheint, tun sich technische Assistenzsysteme aus dem Bereich des ‚Ambient Assisted Living‘ (AAL) schwer damit, am Markt Fuß zu fassen. Zwar werden vielerorts Projekte mit teilweise bemerkenswerten Innovationen durchgeführt, aber die Projektergebnisse versickern oft auf ihrem Weg in die Regelnutzung. Neben Fragen nach geeigneten Geschäftsmodellen trägt hierzu ein oft fehlendes Gesamtsystemkonzept bei. Viel zu häufig werden auch die künftigen Nutzer erst sehr spät in den Entwicklungsprozess einbezogen – zu spät, um etwas bewirken zu können. Für den Nutzer stellt sich der Markt als zersplitterte Menge von Endlösungen dar, die nebeneinander stehen, von verschiedenen Anbietern kommen und nicht interoperabel sind. Vergleicht man den AAL-Markt mit der Automobilindustrie, dann gibt es eben gerade nicht den Systemanbieter (Fahrzeughersteller), der Komponenten und Teilsysteme seiner Zulieferer auf der Basis wohldefinierter Baupläne zu einem integrierten Innovationsprodukt (Auto) zusammensetzt. Genau dies ist der Grund, warum in unseren Fahrzeugen neue Lösungen wie das Car Entertainment, Navigationssysteme, ESP, SIPS, ABS, Einspritzungen etc. Eingang gefunden haben, der Innovationssprung in unseren Wohnungen aber nur für einen Wechsel von analoger zu digitaler DSL-Leitung langte.

Mensch im Mittelpunkt

Für erfolgreiche AAL-Lösungen werden also geeignete Systemkonzepte und -architekturen benötigt. AAL-Lösungen sind soziotechnische Systeme, deren Systemkonzepte darauf abzielen müssen, den Nutzern Service, Teilhabe am Gesellschaftsleben, Sicherheit und Hilfestellung bei Gesundheitsthemen oder pflegerischen Problemen zu geben. Dabei ist es unerlässlich, den Menschen in den Mittelpunkt der Entwicklung zu stellen. Dies meint den Empfänger der Dienstleistung ebenso wie den Dienstleister selbst. Das Gesamtsystem steht und fällt also mit dem menschlichen Netzwerk der Diensterbringung, angefangen vom Verkäufer über den Installateur des Systems bis hin zum Systembetreuer und last not least dem Dienstleister. Funktioniert dabei nur ein Teil des menschlichen Systemnetzwerks nicht, so sinkt die Akzeptanz des Nutzer sofort deutlich. Insofern ist bei der Gestaltung von AAL-Lösungen insbesondere Wert auf den menschlichen Anteil des Gesamtsystems zu legen. Für den Ingenieur bedeutet dies: Fragen des ‚Quality of service‘ (QoS) und des Service Engineerings sind von großer Bedeutung.

Vom Technikspielplatz zum integrierten Zugang

Neben der menschlichen Systemkomponente sind die technische Systemgestaltung und damit die Frage nach Architekturen und Prozessen auf diesen Architekturen wichtig. Es darf nicht sein, dass jeder technikgestützte AAL-Service auf einer eigenen Kommunikationslösung basiert, eine individuelle Zugangstechnologie zum Nutzer benötigt und am Ende auf eigenen Endgeräten und User Interfaces aufbaut. Benötigt werden ganzheitliche Infrastrukturen, die die jeweiligen IT-basierten Services an den ‚point of service‘ / ‚point of health‘ / ‚point of care‘ bringen. Dieser sollte aus der Sicht der Services ein gemeinsamer und aus der Sicht der Endbenutzer ein personalisierter Zugangskanal sein, der in der Wohnung (z.B. über einen Fernseher oder ein Tablett-PC) oder aber auch für mobile Szenarien (z.B. über eine Smartphone) realisiert ist. Wichtig sind bei der Gestaltung dieser Infrastrukturen die Aspekte ‚offenes System‘ und ‚Personalisierung‘. Je besser die Systeme auf den Nutzer zugeschnitten sind, desto eher akzeptiert er sie. Allerdings ändert sich der Bedarf des Nutzers je nach Lebenslage. Steht bei dem Benutzer in der mittleren Lebenshälfte wohl in der Regel noch der Wunsch nach Information und Services im Vordergrund, so kommen häufig im höheren Alter gesundheitliche Gebrechen oder später vielleicht Pflegebedarfe hinzu. An diese veränderten Rahmenbedingungen sollte sich die AAL-Unterstützung in geeigneter Weise anpassen: Bietet das System in Phase 1 Komfortservices, so werden in Phase 2 Gesundheitsdienste z.B. via Telemedizin hinzugenommen. In der dritten Phase steht dann die Unterstützung der Pflege (z.B. Pflegeakte, Monitoring) im Mittelpunkt. Nichts wäre Akzeptanz hemmender, als alle diese Dienste undifferenziert auf einem Portal mit einem Zugangskanal zur Verfügung zu stellen.

Informationslogistische Lösungen sind gefragt

Das AAL-System muss also aus einer Infrastruktur bestehen, die flexibel personalisierte Dienste je nach Bedarf des Nutzers anbietet. Das System muss ‚mitaltern‘, also sich den unterschiedlichen Bedürfnissen wechselnder Lebenslagen anpassen können. Ein derartig gestaltetes AAL-System ist ein Musterbeispiel für die Forschungsphilosophie der Informationslogistik, wie sie das Fraunhofer ISST versteht, denn das System bietet eine bedarfsgerechte, personalisierte Informationsversorgung und Service-Bereitstellung für den diskutierten Anwendungsbereich. Schon heute entwickelt das Fraunhofer ISST in mehreren Forschungsprojekten Teilaspekte, die in das informationslogistische Gesamtsystem für AAL, wie es den Forschern vorschwebt, als Bausteine einfließen. So beschäftigen wir uns (Phase 1) mit der Bereitstellung von haushaltsnaher Dienste und Informationen, in der Phase 2 mit der Integration telemedizinischer Dienste, in dem die Wohnung an ein Krankenhaus und entsprechende Services angebunden wird und in der Phase 3 mit pflegeunterstützenden Dokumentationslösungen. Im Gegensatz zu anderen Projekten bleibt die Basis für all diese Dienste immer gleich: Es ist die Dienstplattform, die das Institut als Basis für alle Lösungen entwickelt hat, und auf der einzelne Dienste je nach Bedarf zugeschaltet oder abgeschaltet werden können.

– Die technischen Forschungsfragen, die das Fraunhofer ISST jenseits konkreter Anwendungsinstanzen bearbeitet, lauten: Wie müssen offene Diensteplattformen gestaltet sein, damit sie ein dynamisches ‚Plug and Play‘ von Services ermöglichen? Welche Standards und Schnittstellen werden benötigt?
– Wie muss eine Lösung aussehen, die dem Nutzer eine bedarfsgerechte, personalisierte Auswahl von Services ermöglicht?
– Wie lassen sich verschiedene Aktoren und Sensoren dynamisch in das System einbringen, so dass neue Informationen verfügbar und neue Services realisierbar werden?
– Wie können Informationen und Services auf verschiedenen Endgeräten präsentiert und genutzt werden?

Technisch sind diese Fragen mit Methoden zur Modellierung von Bedarfen, Service Engineering, Service Matching, Ontologien, Context Computing, Sensor-Integration und -Fusion sowie dem ‚User Interface and Interaction Modelling‘ und dergleichen zu beantworten. Diese technischen Bausteine müssen in geeigneter Art und Weise in eine Gesamtsystemarchitektur überführt werden, die eine Infrastruktur zur Orchestrierung und bedarfsgerechten Bereitstellung von Services erlaubt. Neben Architekturfragen sind dabei auch Anforderungen an die Prozessunterstützung zu klären, da Services häufig nicht nur aus einer einzelnen Interaktion des Nutzers bestehen, sondern mehrschrittige Prozesse darstellen. Die informationstechnische Abwicklung der Prozesse bedarf Techniken des Workflow Managements. Aufbauend auf einer derart gestalteten Diensteplattform lassen sich konkrete AAL-Lösungen für die jeweiligen Projektkonstellationen leicht und flexibel aufbauen. Das Fraunhofer ISST arbeitet an möglichst dynamischen und flexiblen Diensteplattformen, die sich im höchstmöglichen Maße an die spezifischen Anforderungen konkreter AAL-Szenarien anpassen lassen: eben ‚mitalternder IT‘.